Haben Kinder und Jugendliche immer mehr psychische Probleme?
Ein deutlicher Anstieg der Diagnosen psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen wurde zwischen 2010 und 2017 registriert. Weil es mehr Fälle gab oder weil offener damit umgegangen wird?
Es klingt zunächst erschreckend, was im jüngst erschienenen „Versorgungsmonitor Ambulante Kinder- und Jugendmedizin“ vermeldet wird: Die Kinder- und Jugendärzte stellten 2017 ganze 37 Prozent mehr Entwicklungsstörungen fest als noch 2010. Anpassungsstörungen wurden um 39 Prozent häufiger diagnostiziert, Störungen des Sozialverhaltens um 22 Prozent. Die Grundlage für diese Aussagen bildeten die vertragsärztlichen Abrechnungen und die Arzneiverordnungsdaten der betreffenden Jahre.
Nimmt also die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen hierzulande stetig ab? Das legen die Daten zwar nahe, doch Praktiker wie der in Berlin-Wittenau tätige Kinderarzt Kyros Mani relativieren: „Wenn Erkrankungen häufiger diagnostiziert werden, muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie vorher seltener auftraten. Auch die kulturelle Perspektive auf eine Erkrankung ist entscheidend, und gerade seelischem Leid wurde lange Zeit mit einer Haltung à la ‚Reiß dich halt zusammen‘ begegnet. Das hat sich glücklicherweise in den letzten Jahren gewandelt.“
Auch Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), der die Studie gemeinsam mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) herausgegeben hat, stößt ins gleiche Horn: „Die Entwicklung geht sicher auch auf einen offfeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen zurück. Sie sind erfreulicherweise kein Tabu mehr. Kinder und Jugendliche sowie Eltern reden heute offen beim Arztbesuch über psychische Probleme. Auch weil sie wissen, dass wir ihnen hier weiterhelfen können.“
Schwenk von körperlichen zu psychischen Leiden
Eine gegenläufige Tendenz zum Anstieg bei den psychologischen Diagnosen wurde bei somatischen, also körperlichen Leiden verzeichnet. So wurden beispielsweise 2017 nicht nur deutlich weniger Bronchitis-Erkrankungen behandelt als 2010, sondern auch weniger Antibiotika verschrieben. Insgesamt haben sich die Behandlungsanlässe in Richtung psychischer Erkrankungen verschoben. Zudem kamen die Kinder und Jugendlichen tendenziell häufiger wegen chronischer Leiden in die Praxen und weniger häufig wegen akuter Anlässe.
Inwieweit die Zahlen also tatsächlich eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit unter Kindern und Jugendlichen anzeigen, lässt sich kaum beziffern. Andere Studien sprechen durchaus dafür, dass die jungen Menschen vermehrt unter Stress und Leistungsdruck leiden und/oder durch die Digitalisierung ihres Alltags wichtige Stützen für das seelische Gleichgewicht weitgehend einbüßen – neben sozialen Kontakten zählt dazu auch ausgiebige Bewegung. Eltern tun jedenfalls gut daran, aufmerksam auf Anzeichen für psychische Beschwerden zu achten.