Wie realistisch ist der neue Ernährungsreport?
Glaubt man dem aktuellen Ernährungsreport der Bundesregierung, essen die Bürger hierzulande überwiegend gesundes, regional angebautes Selbstgekochtes. Kinderärzte sehen ein anderes Bild – und widersprechen.
Es ist ein schmeichelhaftes Bild, welches das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in der aktuellen Ausgabe seines seit 2016 jährlich erscheinenden „Ernährungsreports“ von den Essgewohnheiten der Deutschen zeichnet. Einige Ergebnisse der von forsa unter 1.000 Bundesbürgern durchgeführten Befragung: 83 Prozent ist es wichtig oder sehr wichtig, dass die konsumierten Nahrungsmittel aus der Region stammen, also nur kurze Transportwege brauchen. Daraus ergibt sich eine Ausrichtung an saisonaler Kost. Für 54 Prozent sind bei der Auswahl die Produktinformationen auf der Verpackung mitentscheidend. Fast drei Viertel der Deutschen bekochen sich gern selbst, davon mehr als die Hälfte täglich. 55 Prozent verzichten öfters bewusst auf Fleisch.
Das alles klingt löblich. Doch es steht in Teilen konträr sowohl zu den Beobachtungen von Kinder- und Jugendärzten als auch zu statistischen Erhebungen zu Körpergewicht oder Kaufverhalten. In den letzten 20, 30 Jahren haben die jungen Menschen hierzulande – ebenso wie die Erwachsenen – deutlich an Gewicht zugelegt. Der Verkauf stark verarbeiteter Lebensmittel, darunter Fertiggerichte, Süßigkeiten oder auch Soft Drinks, zieht kontinuierlich an. Dem gegenüber steht eine um sich greifende Bewegungsarmut unter Kindern und Jugendlichen.
„An tatsächlicher Adipositasdramatik vorbei“
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) gibt sich denn auch nicht zufrieden mit dem geschönten Befund des Ernährungsreports: „1,1 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind übergewichtig, 800.000 leiden unter Adipositas (Fettleibigkeit; Anm. d. Red.). Die meisten von ihnen kommen aus bildungsfernen Familien, in denen es an Kompetenz fehlt, sich gesund zu ernähren. Diese große Gruppe blendet der aktuelle Ernährungsreport des Ministeriums weitgehend aus“, moniert die BVKJ-Vizepräsidentin Dr. Sigrid Peter.
Auch der in Berlin-Wittenau tätige Kinderarzt Kyros Mani betont: „Der Kampf gegen das Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist und bleibt eine Herausforderung. Gerade im Zuge des Corona-Lockdowns haben viele junge Menschen noch weniger Bewegung gehabt als sonst und vielleicht zudem mehr Zeit mit Snacks vor einem Bildschirm verbracht. Es würde mich nicht wundern, wenn die Statistiken den Effekt in einigen Monaten klar ausweisen würden.“ Bleibt zu hoffen, dass die bei Umfragen wie dem Ernährungsreport geäußerten Meinungen – im Grunde sind es wohl eher Vorsätze – mittelfristig noch ihren Niederschlag in der alltäglichen Ernährung finden werden.